Samstag, 28. Januar 2012

Summerhill und Pflegeheim, Teil II. Zwang

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Wurde bei dem ursprünglichen "Experiment Summerhill" Wert darauf gelegt, daß keinerlei Zwang auf das Lernen der Kinder wirken sollte, weil dieses ihre Entwicklung hemme oder gar in die falsche Richtung lenke, so wurde man dort inzwischen eines Besseren belehrt.
Die Zielrichtung in Pflegeheimen ist da durchaus differenzierter zu sehen, aber eine Anlehnung an das Gedankengut von "Summerhill" ist da doch oft unverkennbar.
Dabei fällt auf, daß sich die Wikipedia bei der Definierung des Wortes Zwang recht dünn darstellt und nur das Wort Freiheit als Gegenteil von Zwang anbietet.
Es ist kein Wunder, daß sich da die Autoren der Wikipedia ein wenig schwer tun:
In unserer Gesellschaft gibt es halt keine "absolute Freiheit", sondern nur verschiedene Ausprägungen, je nach Sichtweise verschiedenster Gruppen..
Noch komplizierter wird es, wenn man nach dem Freien Willen fragt.
Da hat sich jede Fraktion ihre eigene Definition zurecht gelegt.

Auch das "Handbuch" für Pflegende, das Pflege-Wiki gibt sich da recht hilflos.
Der Begriff Zwang führt dort zu dem Begriff Gewalt und weiter zu Gewalt in Pflegebeziehungen, aber auch diese Begriffe sind nicht gerade zielführend.

Wie dem auch sei, eine absolute Willensfreiheit gibt es nicht.
Wir begegnen auf Schritt und Tritt ständig irgend einer Form der Einschränkung, die wir nur allzu oft als "Zwang" empfinden . . . und dennoch dulden.

Hat sich nun in dem Projekt Summerhill ein klares (aber nicht starres) Regelwerk von mehr als 200 Regeln herausgebildet, so herrscht dagegen im Pflegebereich ein unübersichtliches Chaos.
Das Pflegepersonal ist an eine Vielzahl von Regeln gebunden, die zu einem großen Teil dazu dienen, um den Behörden die Überwachung einer ordnungsgemäßen Pflege zu ermöglichen.
Eine dieser Regelgruppen ist die über "Zwang" oder Freiheitsentziehung.

Da sind zum Beispiel Maßnahmen, die die Freiheit beschränken.
Das, was man dem Patienten nicht antun darf, das ist zumeist klar geregelt:
Ohne richterliche Anordnung darf zum Beispiel ein Patient nicht in sein Zimmer eingesperrt werden und er darf auch nicht mal so eben im Bett fest angebunden werden.
Auch solche Feinheiten, wie das Hochstellen der seitlichen Bettgitter sind zwar klar definiert, werden aber schon ein wenig laxer gehandhabt.

Wo liegt nun die Grenze zwischen Laissez-faire - Motivation - und Zwang?
Hier wird das Pflegepersonal meistens allein gelassen und auch die Angehörigen und "Kümmerer" (aller Typen) laufen Gefahr anzuecken oder sich gar strafbar zu machen.

Meine Erfahrung ist, daß der Begriff Zwang soo schwammig ist, daß wirklich jeder Einzelfall genau anzusehen ist.
So wird das Legen einer Magensonde meist als ein "notwendiger" Zwang empfunden, um Leben zu erhalten.
Das Verbleiben einer Magensonde aber, wenn die zu pflegende Person essen könnte - aber nicht will - wird da schon ein wenig kritischer zu hinterfragen sein.

Ähnlich sieht das mit dem "Windeln" aus.
Wenn sich eine zu pflegende Person die angelegte Inkontinenz-Vorlage immer wieder vom Leibe pult und aus dem Bett schmeißt . . . signalisiert diese Person damit vielleicht, daß sie nicht mehr in Windeln gewickelt werden möchte und stattdessen lieber zur Toilette gebracht werden möchte?
Ist es dann Zwang, wenn diese Person trotzdem weiterhin gewickelt wird?
Oder ist es einfach die schlichte Notwendigkeit, weil nicht genug Pflegepersonal vorhanden ist, um alle Wünsche des Pfleglings zu erfüllen?

Wie stark darf ein Motivationsdruck werden, wenn ein Pflegling die Mobilisierung verweigert und sich schon Folgen von Muskelschwund und Muskelverkrampfungen zeigen?
Muß in solchen Situationen der Betreuer oder gar das Betreuungsgericht eingeschaltet werden?

In Sachen Zwang könnte man aus dem Experiment Summerhill lernen.
Ging man dort zunächst davon aus, daß man keinerlei Regeln bräuchte,
so weiß man heute, daß das Unsinn war.
Und man hat dort auch gelernt, daß die beschlossenen Regeln ständig
demokratisch überprüft und angepaßt werden, sollte sich heraus stellen,
daß das bestehende Regelwerk nicht optimal funktioniert oder auch nur
nicht mehr "zeitgemäß" ist.

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Zur Diskussion gestellt:
Die zu pflegende Person läßt sich nur von "resolut" zugreifenden Pflegekräften widerspruchslos in den Rollstuhl setzten und nur, wenn sie auch Vertrauen zu dieser Pflegekraft hat.
Bei anderen Pflegekräften lehnt die zu pflegende Person die höfliche Frage "Na, möchten sie heute in den Rollstuhl gesetzt werden?" mit einem schroffen und unmißverständlichem "Nö, heute nicht!" ab.

Wie geht ihr Fach-Pflegekräfte mit solch einer Situation um, wenn ihr unter Zeitdruck seid?

Und wie geht ihr mit der gleichen Situation um, wenn der Zeitdruck für euch nur mäßig ist?
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